Um die Figur Francesco Geminiani (1687-1762) ranken sich viele Geschichten: Er soll in Neapel vom Konzertmeister zum Bratscher degradiert worden sein, weil das Orchester mit seiner Art zu spielen
überfordert war. Er soll aus England nach Dublin nur deswegen zeitweise übersiedelt sein, weil er in Zusammenhang mit seinem zweiten Standbein, dem Gemäldehandel, in dubiose Machenschaften
verwickelt war. Er soll in Dublin dann einen Konzertsaal unterhalten haben, in dessen Untergeschoss er weiterhin Gemälde verkaufte….
Fest steht: Ein Geiger aus dem Geigenland wählt das geigerisch vergleichsweise unterentwickelte England als neue Heimat und wird dort als Virtuose, Lehrer und Komponist berühmt. Er verkehrt mit
Größen wie Corelli und Händel, er wird verehrt und auch angefeindet. Er hinterlässt außergewöhnliche, stilistisch schwer einzuordnende Kompositionen. Seine Musik bewegt sich zwischen allem: Insel
und Kontinent, frühem und spätem 18. Jahrhundert, Methode und Kunst, Volkslied und Kunstmusik….
Und er reiht sich neben bierernsten Theoretikern in das Säkulum der Verschriftlichung mit eher improvisatorisch als wissenschaftlich angelegten Traktaten.
Er ist vor allem das: ein Künstler.
Wer sich mit ihm beschäftigt, kommt unweigerlich mit seinem ungebändigten Ausdruckswille in Berührung.
Und was heißt das für die Musik? Was ist überhaupt musikalischer Ausdruck? Wie wirkt er auf uns? Wie ist das zu beschreiben: Das Wesentliche, das Unsichtbare der Musik? Welche kompositorischen
Mittel sind Voraussetzung für eine ausdrucksvolle Komposition? Und wie gestaltet man eine musikalische Darbietung mit Ausdruck?
Diese grundlegenden Fragen werden im England des 18. Jahrhundert bereits jenseits von Instrumental-, Musiktheorie- oder Kompositionsschulen diskutiert. In Deutschland spricht man wohl über
ähnliche Dinge, aber in greifbareren
Termini: Empfindung, Affekt, Geschmack…
Begriffe also, die in gewisser Weise sichtbar sind, eindeutiger…
Die für uns selbstverständliche und doch letztlich undefinierbare Vorstellung von Ausdruck oder Äquivalenten wie dem „Wesen“ der Musik wird in Deutschland erst Jahrzehnte später Gegenstand
kritischer Betrachtung.
Musical Expression
(Charles Avison, gemeinfrei)
Charles Avison (1709-1770), Musiker, Komponist, Instrumentallehrer, Konzertveranstalter und
Musiktheoretiker (Oder könnte man ihn bereits zu den Musikphilosophen zählen…?) publiziert 1752 einen Essay on Musical Expression.
Er beschreibt Musik darin als eine Kunst, welche
„is of mighty Efficacy in working both on Imagination and Passions“
Eine Kunst also, die sowohl auf den Intellekt als auch auf die Leidenschaften des Menschen wirkt. Musik spricht dabei einen „internal sense“ an, affiziert also einen unsichtbaren,
innerlichen Sinn. Später beschreibt er die Wirkung des musikalischen Ausdrucks als „Power of exciting all of the most agreeable Passions of the soul“. Hier ist sie also beim Namen
genannt: Die Seele - was immer wir oder Menschen des 18. Jahrhunderts darunter verstehen…
Musikalischer Ausdruck ist dabei in allen Farben und Varianten möglich, streift alle Winkel und Zustände dieser Seele.
In dem hunderte Seiten langen Essay analysiert Avison akribisch, welche musikalischen Mittel über den spezifischen Ausdruck einer Musik bestimmen und welche Komponisten in dieser Hinsicht
„Masters“ ihres Handwerks sind.
Über Francesco Geminiani heißt es da:
„the greatest in instrumental Music; I mean the admirable Geminiani; whose Elegance and Spirit of Composition ought to have been much more our Pattern; and from whom the public Taste might
have received the highest Improvement (…)
…many excellent compositions, but for having as yet parted with none that are not extremely correct and fine. There is such a Genteelness and Delicacy in the Turn of his musical Phrase, and
such a natural Connection in his expressive and sweet Modulation throughout all his works….“
Charles Avison, nebenbei bemerkt Schüler Geminianis, verwendet in seinen eigenen Kompositionen Geminianis Vortragsbezeichnungen und verweist in Vorworten teilweise auf Geminianis
Introduction of good taste, anhand welcher der Spieler Verzierungen auch in Avisons Kompositionen anbringen soll.
(Avison sei hier wegen seiner Beziehung zu Geminiani als Beispiel genannt, derer man in England auch andere findet. So setzten sich auch James Harris oder James Beattie mit dem Grundbegriff
„Expression“ in Kunst und Musik auseinander.)
The Art of Playing
(Francesco Geminiani, gemeinfrei)
Eingebettet in eine Diskussion also, die sich in einem übergeordneten, musikästhetischen Sinn mit Komposition und Interpretation befasst, eröffnet Geminiani seine 1751 herausgegebene Violinschule
The Art of playing on the Violin mit den Worten:
„The Intention of Musick is not only to please the Ear, but to express Sentiments, strike the Imagination, affect the Mind, and command the Passion“
Der Sinn, das Wesen und die Wirkung von Musik verfügt -nach meiner Lesart- in diesem Traktat über absolute Bedeutungshoheit. Einiges mag dabei auf den ersten Blick unlogisch oder unvollständig
scheinen. Geminiani erstellt kein lückenloses Lexikon über das Geigenspiel, keine Schule von A bis Z, die einen jeden zur vollkommenen Kunstfertigkeit auf diesem Instrument geleitet. Er verweist
ausdrücklich darauf, dass Virtuosität im Sinne von Effekthascherei nicht Gegenstand seiner Lehre ist. Er legt kein allgemeingültiges Regelwerk über Striche, Fingersätze, Verzierungen und
dergleichen an.
Das Traktat hat etwas von einer Skizze, einer Sammlung von Ideen und Vorschlägen mit dem übergeordneten Ziel einer ausdrucksvollen, berührenden, abwechslungsreichen Interpretation: „The Art of
playing on the Violin“.
- In seiner Introduction to a good Taste in Musick erklärt er eine möglichst umfangreiche Kenntnis über Verzierungen und Variationsmöglichkeiten zwar zur Voraussetzung für ein
kunstvolles Spiel, das Vorhandensein eines „peculiar Gift of Nature“ ist dabei jedoch ebenso unerlässlich. -
Verzierungen nennt er „Ornaments of Expression“ und zu jeder einzelnen zählt er die möglichen Verwendungsbereiche hinsichtlich des musikalischen Ausdrucks auf. Fingersätze
folgen selten praktischen Prinzipien, sind kaum systematisierbar, sondern dienen vornehmlich einer bestimmten Klangvorstellung oder dem singbaren Verlauf einer Melodie (besonders augenscheinlich
in seinen Rules for Playing in a true Taste). Dynamikbezeichnungen haben eher suggestiven Charakter, sie wörtlich zu realisieren wäre an vielen Stellen beinahe bizarr. Übergänge
und Schattierungen sollte man deswegen wohl gedanklich ergänzen.
Im Vergleich zum Kontinent
Obwohl Geminianis Art of Playing nur wenige Jahre vor zwei großen Lehrwerken deutscher Musiker entstanden ist (Johann Joachim Quantz’ Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu
spielen von 1752 und Leopold Mozarts Gründliche Violinschule von 1756), lässt sich seine Schule mit denen der Kollegen vom Kontinent kaum vergleichen. Während Quantz und
Mozart regelrechte Enzyklopädien über die Kunst, ihr jeweiliges Instrument zu spielen, verfassen - umfangreich und nach Universalität strebend - fokussiert Geminiani in erster Linie das, was bei
den anderen beiden in einem Kapitel über den „guten Vortrag“ zusammengefasst steht.
In seiner (viel später erschienenen) Schule The Art of Accompaniment erklärt Geminiani sein nicht vorhandenes Bedürfnis nach Vollständigkeit auf diese Weise:
„I shall not in this Work speak of the Clefs, of Notes and Measures, or of Flats and Sharps; (…) I suppose the learner already acquainted with those Things: but if he is not, it is very easy
to acquire that Knowledge in a short Time, by the Assistance of a Master. In short, I purpose in this Work, to treat of what hath not already been handled by others, and not to repeat what hath
already been repeated an Hundred Times over.“
Und doch sehe ich viele Parallelen zu Quantz und Mozart:
(Abbildung aus Mozarts Violinschule)
Technisch beschreibt Mozart ähnlich wie Geminiani die hohe Relevanz von Effizienz im Bewegungsablauf beim Streichen sowie dem Vermögen zu perfekt kontrollierbarer Klangmodulation. Mozart setzt
Erläuterungen zum „Messa di Voce“ in seinen verschiedenen Formen fast an den Anfang seiner Schule. Geminiani erfindet für das An- und Abschwellen eines Tones ein eigenes Zeichen, welches in
seinen Beispielen und Kompositionen teilweise an ungewöhnlichen Orten angebracht werden soll.
Takthierarchie scheint für Geminiani eine untergeordnete Rolle zu spielen. So bekennt er sich dazu (ganz im Gegensatz zu Leopold Mozart), auf jeder EINS eines Taktes Abstrich spielen zu wollen,
für eine „wretched rule“ zu halten. Einige Beispiele und Übungen sollen sowohl im Ab- als auch im Aufstrich beginnend studiert werden. So ist es kaum verwunderlich, dass Schwell-Zeichen häufig
auch auf unbetonten Zeiten wie Auftakten zu finden sind. (Übrigens notiert Geminiani jeweils nur ein Anschwellen des Tones, das Folgen eines Abschwellens setzt er jedoch voraus.)
Das Vibrato unterteilt Geminiani in drei Arten (von groß nach klein), je nachdem, welchen Ausdruck man einer Note verleihen will.
Zuweilen taucht das Gerücht auf, Geminiani plädiere für ein „Dauervibrato“. Das ist meines Erachtens eine völlige Fehlinterpretation. Er schreibt zwar:
„when it (das Vibrato) is made on short Notes, it only contributes to make their Sound more agreeable and for this Reason it should be made use as often as possible“
-wenn man jedoch die Dichte in Betracht zieht, mit welcher Verzierungen angebracht werden sollen (hier beziehe ich mich vor allem auf Beispiele seiner Rules for Playing), bleiben nicht gar viele
Noten übrig, auf denen ein Vibrato überhaupt möglich wäre. Und was das ist: möglich- bleibt dann immer noch im Einzelfall zu entscheiden. Mozarts leicht polemischer Hinweis, man solle nicht
immerfort vibrieren als hätte man das „zittrige Fieber“ widerspricht Geminianis Ausführungen also keineswegs.
Entsprechend Geminianis Eingangsworten beschreibt Quantz das erste Prinzip eines gelungenen Vortrags:
„sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affect zu versetzen.“
und Mozart erachtet als unfähig diejenigen, die „ohne Ordnung und ohne Ausdruck“ spielen.
Die Herzen, die Leidenschaften oder letztlich die Seelen der Zuhörer zu erreichen und zu bewegen ist die wahre Kunst. Wie das erlernbar ist? Durch Erfahrung und den guten Geschmack.
„rather Taste than Reasoning“ schreibt Avison,
„die man nicht anders, als mit gesunder Beurteilungskraft durch eine lange Erfahrniss erlernet“, so Mozart.
Quantz erweitert das noch in der Annahme, dass der individuelle Charakter eine Rolle spielt: „Der Vortrag ist fast bei keinem Menschen wie bei dem anderen“
(Johann Joachim Quantz, gemeinfrei)
Die Fähigkeit des einzelnen, sich selbst in eine gewisse Empfindung zu versetzen, um diese auszudrücken, nehmen alle drei Autoren als wesentlich für einen vollkommenen Musiker an.
So ist der musikalische Ausdruck nicht nur als Gegenstand philosophischer Betrachtung kaum zu greifen, sondern auch im Moment des eigenen Spiels nicht allein auf rationaler Ebene herstellbar.
Eine gelungene Interpretation, nämlich eine berührende, kann nur der Einzelne aus sich heraus generieren. Technik, Erfahrung und Kenntnis sind dafür notwendige, jedoch keine hinreichenden
Bedingungen. Damit wird das Musizieren beinahe zur mystischen Erfahrung.
Geminianis Schule ist etwas zum Stöbern, zum Ausprobieren und sich inspirieren lassen. Etwas zum Nachdenken, Nachsinnen, zum Bezüge herstellen. Sie ist genau das, was die Musik ist: nicht
fixierbar.
Leseempfehlungen
Francesco Geminiani,
The Art of Playing on the Violin
A Treatise of Good Taste in the Art of Musick:
The Art of Accompaniment
Leopold Mozart,
Gründliche Violinschule
Johann Joachim Quantz,
Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen
Charles Avison,