(Giovanni Francesco Barbieri Guercino: Die Ekstase des heiligen Franziskus)
Auf Gemälden des 17. Jahrhunderts begegnen uns häufig geigende Figuren, die ihr Instrument ebenso tief halten wie der obige Engel. Welche Rolle hier Ästhetik spielte versus Realitätstreue? Wie
exakt die Beobachtungsgabe eines Malers sein kann, der selbst kein Instrument spielt? - Berechtigte Fragen. Johann Jakob Prinner hat dazu (unter anderem) folgende Meinung:
Wenn man aber die Violin recht beherrschen will, so muss man solche unter die Khey (das Kinn) fassen, damit man den Arm holl gebogen als wie einen Räff, auch mit hollgebogener Hand den Hals
oben bei den Schrauffen zwischen den Daum lege, und mit der Khey die Geigen soviel festhalte, dass man nicht Ursach hat, mit der linken Hand solche zu halten, weil es sonst unmöglich wäre, dass
ich damit bald hoch, bald nieder laufen und reingreifen könnte, es sei denn, dass man mit der rechten Hand die Geigen halten müsste, damit sie nicht entfalle, und dadurch etliche Noten zu
streichen versäumen würde, unangesehen ich viele Virtuosen gekannt, welche solches nicht geachtet, und die Violin nur auf die Brust gesetzt, vermeinend es sei schön und zierlich, weil sie etwas
von einem Gemälde abgenommen, da der Engel dem heiligen Franziskus vorgegeigt, also gemallener gefunden. Sie hätten aber wissen sollen, dass derselbige Maler vielleicht wohl künstlich mit dem
Bembsel aber nicht mit dem Geigenbogen gewesen sei.
(Johann Jakob Prinner: Musikalischer Schlissl)
Anmerkung: Ich habe mir die Freiheit erlaubt, zur besseren Verständlichkeit minimale sprachliche Modernisierungen des Originaltextes vorzunehmen.
Aus dieser Textpassage - die durchaus ihre Komik hat: man stelle sich nur bildlich vor, wie einer seine Geige für Lagenwechsel mit der rechten Hand festhält... - lassen sich zwei unterschiedliche
Haltungstendenzen (mindestens in Prinners Lebenswelt) ableiten:
- Eine tiefe Geigenhaltung, unterhalb des Schlüsselbeins - Prinners Spott richtet sich ja offenkundig an reale Adressaten…
- Eine Geigenhaltung oberhalb des Schlüsselbeins mit der Möglichkeit, das Instrument teilweise oder auch dauerhaft mit dem Kinn zu stabilisieren.
Wem gilt wohl Prinners Häme? Italienischen Geigern, von welchen sich auch John Lenton distanziert - Auch jener bevorzugt nämlich, die Geige unterm Kinn zu halten und nicht tief wie manch
anderer, der die Italiener zu imitieren beabsichtigt.
Französischen Geigern, deren Repertoire im 17. Jahrhundert vor allem in Ensemble- und Tanzmusik besteht? Oder gleich
nicht- oder semiprofessionellen Tanzgeigern und Dorfmusikanten?
Eines ist jedenfalls klar: Die "tiefe" Geigenhaltung wurde nicht nur im 17. und 18. Jahrhundert praktiziert, sondern hat sich in bestimmten Genres über die Jahrhunderte erhalten.
(links im Bild: Fred Fiddlehopper; rechts: One-eyed Bob, der seinen Namen übrigens einem tragikomischen Unfall verdankt: Fred Fiddlehopper stach ihm mit dem Bogen wohl ein Auge aus...)
Neben Tradition und Gewohnheit beeiflusst sicher der musikalische Nutzen eine Spielweise. Musik, die wenig Lagenspiel erfordert, bedarf nicht unbedingt einer „hohen“ Position der Geige.
Und zugleich weist einiges darauf hin, dass im 18. Jahrhundert gerade italienische Virtuosen verhältnismäßig frei spielten - ganz gleich, wie virtuos Corellis, Vivaldis oder Veracinis Werke sein
mögen.
(Francesco Maria Veracini)
Angesichts dieses Künstlerportraits drängt sich abermals die Frage auf: Wie aussagekräftig ist eine solche inszenierte Darstellung? Was erzählt sie uns über Geigentechnik der Vergangenheit? Hat
Veracini tatsächlich so gespielt oder wollte er lediglich so für die Ewigkeit festgehalten werden?
Geminiani rät in "The Art of Playing on the Violin", die Geige „just below the Collarbone“ zu halten und beschreibt zudem eine Lagenwechseltechnik, die das Stützen mit dem Kinn quasi überflüssig
macht. Diese Formulierung lässt meines Erachtens wenig Spielraum für Interpretation. Für mich deutet auch der berühmte "Geminiani-Griff", der die korrekte Stellung der linken Hand
veranschaulichen und formen soll, darauf hin, dass Geminiani seine Geige genau so gehalten hat, wie er es formuliert: unterhalb des Schlüsselbeins und etwas einwärts gedreht. Beim
Geminiani-Griff soll der erste Finger auf die E-Saite, zweiter auf A, 3. auf D und 4. auf G gesetzt werden. Die dadurch erwirkte Handstellung sei ideal für eine solide Technik. Wenn wir aber
davon ausgehen, dass bei einer Geigenhaltung oberhalb des Schlüsselbeins die Geige nur gelegentlich geklemmt, prinzipiell aber relativ frei gehalten wird, liegt das Instrument in einem
eher flachen Winkel, wenn nicht gar waagerecht. Bei dieser Positionierung erzeugt der Geminiani-Griff starke Spannung in der Hand sowie im gesamten Bewegungsapparat des Bogenarms und ist damit
meines Erachtens wenig geeignet für die Etablierung einer der Haltung entsprechenden linke Hand-Stellung. Kurzum: Geminianis technische Methode ist ziemlich eindeutig und ich gehe davon aus, dass
Stützen mit dem Kinn für ihn weder notwendig noch relevant ist.
Die unmittelbar an die Erstveröffentlichung anschließende Reproduktion seines Traktats exemplifiziert dann einerseits die Vielfalt praktizierter Spielweisen und andererseits den pragmatischen, etwas achtlosen Umgang mit der Originalquelle. So erscheint in den 1760er Jahren eine französische Ausgabe, der ein neues Titelbild hinzugefügt wurde.
Der dargestellte Spieler hält die Geige völlig anders als Geminiani es vorschlägt. Dieser Musiker könnte ohne Umstände das Kinn gelegentlich auf die Decke seines Instruments legen, um bequemer
die hohen Lagen zu erreichen. Hat Geminiani, 1762 verstorben, die Ausgabe überhaupt noch zu Gesicht bekommen? War er einverstanden mit diesem Bild? Oder verwendete der Verleger, der im selben
Jahr eine spanische Geigenschule herausbringt, deren Titelbild frappierend ähnlich, man könnte meinen - fast gleich - aussieht, das Bild eigenmächtig und aus praktischen Gründen gleich in beiden
Schulen? In einer noch viel späteren deutschen Übersetzung von „The Art of Playing“ heißt es sogar, man solle die Geige mit dem Kinn stützen - das sind definitiv nicht Geminianis Worte.
Die Idee, die Geige in einer Position zu spielen, die es erlaubt gelegentlich mit dem Kinn zu stützen, vertreten einige Autoren wie zB Michel Corette oder Leopold Mozart. Mozart
unterscheidet zwei Haltungsvarianten, von denen eine angenehm und auch hübsch anzusehen, die andere aber praktisch ist:
Die erste Art, die Violin zu halten, hat etwas angenehmes und sehr gelassenes. Es wird nämlich die Geige ganz ungezwungen an der Höhe der Brust seitwärts, und so gehalten: daß die Striche des
Bogens mehr in die Höhe als nach der Seite gehen. Diese Stellung ist ohne Zweifel in den Augen der Zuhörer ungezwungen und angenehm; für den Spielenden aber etwas schwer und ungelegen: weil bei
schneller Bewegung der Hand in die Höhe, die Geige keinen Halt hat, folglich entfallen muss; Wenn nicht durch eine lange Übung der Vorteil, selbe zwischen dem Daumen und Zeigefinger zu halten,
erobert wird. (Leopold Mozart: Gründliche Violinschule, erstes Hauptstück)
Die zweite ist die bequeme Art. Es wird nämlich die Violine so an den Hals gesetzt, daß sie am vordersten Teile der Achsel etwas aufliegt, und jene Seite, auf welcher das E oder die kleinste
Saite ist, unter das Kinn kommt; dadurch die Violin, auch bei der stärksten Bewegung der hinauf und hinunter gehenden Hand, an seinem Orte allezeit unverrückt bleibt. (ebd.)
Tendenziell ruht das Kinn im 18. Jahrhundert (wenn dann) noch rechts vom Saitenhalter - Ausnahmen bestätigen die Regel. In den 1770er Jahren rät Georg Simon Löhlein bereits, das Kinn links
vom Saitenhalter aufzulegen ohne jedoch zu drücken. Auch Schulen des 19. Jahrhunderts, in denen die Kinnlage links bereits Standard ist (obwohl es auch hier eindeutige Belege für das
gelegentliche Gegenteil gibt) weisen ausdrücklich darauf hin, das Kinn nicht zu stark auf die Geige zu pressen oder es zu weit nach vorn zu schieben. Ebenso soll die Schulter allenfalls leicht
nach vorn geschoben, jedoch nicht übermäßig hochgezogen werden.
Ein links vom Saitenhalter befindliches Kinn verursacht zwangsläufig eine stärkere Seitwärts- bzw. Einwärtsdrehung des Instruments. Vermutlich spielt hierfür nicht nur die „neue Spielart“, wie
einige es nennen, mit häufigem Auf- und Niederlaufen der linken Hand, sondern auch die Entwicklung des Bogens in Richtung länger und konkav eine maßgebliche Rolle.
Je nach Halslänge frage ich mich jedoch wie es möglich sein soll, die Geige mit dem Kinn permanent zu fixieren ohne dabei die Schulter nach oben zu ziehen? Ich nehme an, dass auch diejenigen
Autoren, die für ein grundsätzliches Klemmen der Geige plädieren, von einer harmonischen Dreiecksbeziehung zwischen Kinn, Schulter und linker Hand ausgehen, deren Haltefunktionen ineinander
greifen und gegenseitige Freiheit gewährleisten. Wenn die Geige mehr als gelegentlich zu Lagenwechseln mit dem Kinn gehalten wird, sollte das Kräfteverhältnis der drei Stützpunkte ausgewogen
sein.
Auch Geiger des 19. Jahrhunderts setzten sich mit dem Problem der hochgezogenen Schulter auseinander. Louis Spohr entwickelt um 1820 den „Geigenhalter“ (Kinnhalter), Baillot empfiehlt zumindest
Menschen von zarter Statur die Verwendung eines Kissens als Schulterpolster, Ferdinand David empfiehlt selbiges gleich grundsätzlich.
(aus Pierre Baillot: L'Art du Violon)
Erinnert die Geigenhaltung schon sehr stark an eine „moderne“ Haltung, so folgt der Bogenarm noch einem etwas anderen Ideal. Sowohl Spohrs als auch Baillots Beispielbilder zeigen einen relativ
tiefen Ellbogen. Genau wie bei Geminiani oder Mozart (sie seien exemplarisch für etliche Autoren des 18. Jahrhunderts genannt) soll der Bogen mit möglichst wenig Arm- und Schulterbeteiligung
geführt werden.
Dieser verschwindend kleine Abriss über Geigenhaltungen der Vergangenheit zeigt vielleicht: Vieles ist kompliziert und nichts ist mit nur einem Blick zu erfassen. Während wir in einer Welt mit
vergleichsweise eindeutigen, international ausgehandelten Standards leben, waren die Lebenswelten von Musikern im 17., 18. und 19. Jahrhundert wahrscheinlich erheblich divergenter. Wenn wir uns
heute mit diesen Lebenswelten beschäftigen wollen, bedarf es ausgeprägter Neugier und einer gewissen Unerschrockenheit. Dinge auszuprobieren, die wir nicht von Kindesbeinen an gelernt oder
zumindest kennen gelernt haben, fühlt sich womöglich zunächst unbequem und fremd an, das klangliche Ergebnis kann zu Beginn hölzern und wenig zufriedenstellend sein. Andere Spielweisen verändern
eine Interpretation jedoch unter Umständen ganz entscheidend! Jede Geigenhaltung bietet andere Möglichkeiten und weckt womöglich ungeahnte gestalterische Ideen. Am Ende stehen wir natürlich auf
der Bühne als das, was wir sind und nicht als Marionetten wissenschaftlichen Fleißes. Auch unsere Lebenswelten sind komplex und ein jeder ist das Ergebnis einer persönlichen
musikalischen Biografie. Nicht zuletzt entscheidet auch die individuelle Physiognomie, was für den Einzelnen am besten funktioniert. Und nur aus Lust und Wissensdurst lassen wir den Blick durch
die Zeit schweifen, probieren aus, was uns da begegnet, üben uns in Neuem, versuchen ein möglichst großes Repertoire an Bewegungsmodellen aufzubauen. Und dann - im entscheidenden Moment -
vergessen wir alles wieder und spielen einfach.
Leseempfehlungen:
Marianne Ronez: Die Violintechnik im Wandel der Zeit
Greta Moens-Hanen: Deutsche Violintechnik im 17. Jahrhundert
Leopold Mozart: Gründliche Violinschule
Francesco Geminiani: The Art of Playing on the Violin
Michel Corette: L'école d'Orphée
Georg Simon Löhlein: Anweisung zum Violinspielen
Pierre Baillot: L'Art du Violon