Die Wienerinnen

Wien im 18. Jahrhundert wird von einem Vertreter des aufgeklärten Absolutismus regiert:  Bauernbefreier, Philanthrop, später auch nostalgisch als Reformkaiser verklärt. Joseph II. ist außerdem hoch gebildet, weit gereist und liebt und fördert die Kunst in seinem Wien. Vielleicht ist er einer der Faktoren, die Wien zur internationalen Bühne der Hochkultur machen.
So modern ist Wien, dass auch Frauen hier großangelegte Werke komponieren, Schülerkreise unterhalten und öffentlich in Konzerten auftreten. Kein Wunder also, dass Wolfgang Amadeus Mozart seiner geliebten Schwester anrät, ihm nach Wien zu folgen und sich als Musikerin selbständig zu machen. Vielleicht dient ihm ja auch ganz konkret eine Kollegin namens Josepha Barbara von Auernhammer (1758 - 1820) als Anschaungsobjekt für eine Pianistin mit Ambitionen. Voller Ernsthaftigkeit und kollegialem Respekt berichtet er 1781 Vater Leopold über seine Schülerin Auernhammer:

sie hat mir ihren Plan (als ein Geheimnis entdeckt), der ist, noch 2 oder 3 Jahr rechtschaffen zu studiren, und dann nach Paris zu gehen, und Metier davon zu machen. denn sie sagt, „ich bin nicht schön; o contraire hässlich. einen Kanzley Helden mit 3 oder 400 Gulden mag ich nicht heiraten, und keinen anderen bekomme ich nicht; mithin bleib ich lieber so und will von meinem Talent leben.“ und da hat sie recht; sie bat mich also ihr beyzustehen, um ihren Plan ausführen zu können. - aber sie möchte es niemand vorher sagen.

Die geplante Reise nach Paris wird sie zwar niemals antreten, dafür aber als freischaffende Künstlerin in Wien ihr Berufsleben bestreiten - ähnlich wie heute mit einem Mix aus Spielen, Unterrichten und Komponieren. Bezeichnender Weise führt ein Verzeichnis über Dilettanten und Virtuosen in Wien im Jahrbuch der Tonkunst von Wien und Prag von 1796 sie als Virtuosin (ebenso wie Maria Theresia von Paradis übrigens) und nicht (!) als Dilettantin. Der Schritt von der Liebhaberei zur Professionalität war besonders für Frauen häufig kaum zu bewerkstelligen. Obwohl etliche Frauen auf professionellem Niveau spielten, war Erwerbstätigkeit doch ein selbstverständliches Privileg der Männer. Abgesehen von gesellschaftlichen Normen, die Berufstätigkeit für Frauen mehr oder weniger ausschlossen, waren sie von häuslichen Verpflichtungen und permanenter Schwangerschaft oft vollkommen eingenommen. Jedoch: Ausnahmen bestätigen die Regel! Und vielen Menschen (auch Männern) waren solcherlei Konventionen offensichtlich egal. Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Werken Auernhammer teilweise ab 1781 zu ihrer Verlegung verhilft, widmet ihr sechs Violinsonaten. Auernhammer veranstaltet regelmäßig eigene Akademien im Burg- oder Kärntnertortheater, in denen auch Wolfgang mitwirkt. Nach dem Tod ihres Vaters vermittelt er ihr eine Unterkunft bei Baronin Maria Elisabeth Waldstätten. Was man eben so alles tut für seine KollegInnen…
Exkurs:
Akademien im 18. Jhd. waren von KünstlerInnen selbst veranstaltete Konzerte auf eigenes finanzielles Risiko. Frauen, für die eine Anstellung als Instrumentalistin oder gar Kapellmeisterin in einem festen Ensemble praktisch unerreichbar war, boten Akademien eigentlich die einzige Möglichkeit, sich öffentlich - also jenseits von privaten Soiréen - als professionelle Musikerin zu präsentieren.
Über Auernhammers Kompositionen schreibt Gustav Schilling 1835:
Alle ihre Compositionen übrigens verlangen weniger eine große mechanische Fingerfertigkeit, als Subtilität und Zartheit im Vortrage, Präcision und die höchste Delicatesse im Anschlage, weshalb wir sie weniger Anfängern als wirklich gebildeten Spielern empfehlen können.

Die Souveränität, mit der sich Auernhammer als erwerbstätige Musikerin versteht und verhält, stößt an anderen Stellen jedoch auch auf Argwohn und Diskriminierung. Wenn die Allgemeine musikalische Zeitung 1799 anlässlich einer von Auernhammers vielen Veröffentlichungen geifert,
Das 63te Werk? - Ey, ey, das ist für den äussern Beruf einer Dame, auch von noch so vielem innern Berufe zu den Musenkünsten, etwas viel!
lesen wir daraus einmal mehr, über welche Vorurteile und Ungleichbehandlung eine künstlerisch schaffende Frau sich im 18. Jahrhundert hinwegsetzen musste. Selbstbewusste Inanspruchnahme von Geltung, Wirksamkeit und künstlerischem Eigensinn galt eben als unschicklich für das zweite Geschlecht, das sich vielmehr zurücknehmen und in stiller Demut die Hände in den Schoß oder allenfalls zum privaten Amüsement auf die Tastatur legen sollte.
Auernhammer jedoch lässt sich weder von öffentlicher Anfeindung noch von einer Heirat (1786 mit Johann Bessening) noch von der Geburt ihrer Tochter Marianna (mit der sie später auch gemeinsam in Konzerten auftrat) von ihrem - spätestens 1781 - gefassten Plan abbringen.

Maria Theresia von Paradis (1759 - 1824) teilt mit Auernhammer nicht nur die Wiener Abstammung und Sozialisation, sondern auch einen ihrer wichtigsten Lehrer, Leopold Kozeluch, sowie einen befruchtenden Kontakt zur Familie Mozart - Paradis unternimmt eine dreijährige Virtuosenreise durch Europa, deren Route Wolfgangs und Nannerls erster großer Reise verblüffend ähnlich ist. Auf diese Reise begibt sie sich übrigens mit eigener Kutsche, für deren Finanzierung die Eltern ihre sämtliche Einrichtung verkauften sowie vermutlich einen zerlegbaren Flügel besorgten.
Paradis erhält eine umfassende, hochkarätige Ausbildung - eine Karriere als Musikerin scheint seitens der Eltern durchaus angedacht. Die Tatsache, dass sie seit ihrem dritten Lebensjahr blind ist, beeinträchtigt ihren künstlerischen Tatendrang offensichtlich nicht, jedoch führt sie zu einer unerfreulichen Erfahrung mit den spektakulären „Heilmethoden“ des Magnetiseurs Franz Anton Mesmer.
Welche Folgen die monatelange Behandlung in Mesmers Privaträumen für die Komponistin hat, ist schwer zu recherchieren. Die Gerüchte um ihren dortigen Aufenthalt reichen von anfänglicher Heilung über eine Liebesbeziehung bis hin zu sexuellem Missbrauch. Letztlich muss Paradis’ Vater über gerichtlichen Weg die Tochter aus den Fängen des Heilers befreien, welcher Wien fluchtartig gen Paris verlässt, um dort erneut zur Wunder-Attraktion zu avancieren.
Paradis gebärdet sich als Frau und Künstlerin eher zurückhaltend, beinahe devot und wird gemeinhin als rührende Erscheinung wahrgenommen. Gleichzeitig wagt sie sich aber an großformatige Kompositionen wie Singspiele und Oratorien, tritt als Virtuosin auf und gründet eine bedeutende, viel besuchte Klavierschule für Mädchen und Frauen.
Ihre Blindheit mag einerseits einen Schutz dagegen geboten haben, für ihre öffentliche Platzierung als Künstlerin zur Verantwortung gezogen zu werden, eine freie Spekulation könnte aber auch jenes denken machen:
Der Blick dient der Objektivierung der Umwelt und damit der Selbstermächtigung. Sehen und Erkennen sind Aktionen, um sich etwas zu erschließen - zu Eigen zu machen. Frauen haben deswegen die Augen niederzuschlagen. Eine Frau jedoch, die nichts sieht, ist dieses Aktes augenscheinlich nicht fähig und stellt damit keine Gefahr für die männliche Dominanz dar.
Vielmehr löst die Blindheit eine innere Rührung aus, die Boshaftigkeit, Neid und Ausgrenzung gar nicht erst aufkommen lassen und (wenn doch) gesellschaftlich nicht tolerierbar machen. Interessanter Weise ähneln Äußerungen über eine andere blinde Virtuosin in Vokabular und Motivik jenen über Paradis. Die Glasharmonika-Spielerin Marianne Kirchgeßner, seit ihrem vierten Lebensjahr erblindet, wird geradezu kultisch verehrt. Die Glasharmonika, der landläufig auch nachgesagt wird, sie könne einen in die Abgründe der Melancholie entschwinden machen, verzaubert im 18. Jahrhundert halb Europa. Auch Mesmer setzt das mystische Instrument mit dem engelhaften, körperlosen Klang in seinen Therapien ein. Der Ruf des Jenseits wird durch die Blindheit der Virtuosin noch verstärkt in seinem Topos: Ich sehe was, was du nicht siehst. Gleichzeitig eignet sich das Instrument für die absolute Entsexualisierung seiner Interpretin - ein Instrument, das auf magische Weise wie von selbst klingt, mehr durch bloße Empfindung als durch körperliche Einwirkung.