NYX

Nachts sind alle Katzen grau.

In meinem Nachdenken über die Nacht frage ich mich immer wieder, was dieser Spruch eigentlich bedeutet. Ich frage Wikipedia. Wikipedia weiß alles. Wikipedia sagt (unter anderem):
"Wörtlich bedeutet es, dass das Tagsehen von Menschen, also das Sehvermögen bei ausreichender Helligkeit, differenziert ist, während die Dämmerung zum Verblassen sämtlicher Farben führt."
Allzu trocken, allzu wissenschaftlich, allzu täglich…
Nachts sind alle Katzen grau heißt vielleicht auch: Die Nacht nivelliert dualistische - oder überhaupt trennende - Gesetzmäßigkeiten. Polarisierende Kategorien werden aufgehoben. Schwarze Katzen, weiße Katzen, getigerte Katzen, dreifarbige Katzen - alle erscheinen unseren Augen grau, alle erscheinen gleich. Die Nacht beeinträchtigt also unser Erkenntnisvermögen- wenn sie es nicht gar aushebelt - denn tatsächlich sind diese Katzen nicht alle grau, wir können sie nur nicht mehr wahrhaftig identifizieren. Die Wahrnehmung gaukelt uns eine Scheinrealität vor, so wie die Menschen in Platons Höhlengleichnis vermeintliche Realität erst durch den schmerzhaften Blick in Licht als Schattenbilder entlarven.  
In unserem Spruch allerdings wird das Scheinbare zur Wirklichkeit. Nachts SIND alle Katzen grau - so heißt es. Wir tauchen in eine andere Welt, eine undurchsichtige, unbenennbare, unergründliche Sphäre von Wirklichkeit. Hier gelten keine Gesetze, die wir kennen oder gar machen. Hier herrscht Unordnung, hier herrscht Chaos.
„Das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt“ (Karl Kraus)

Gestatten? Nyx - Göttin der Nacht.
Sie ist eine der direkt aus dem Chaos entstandenen Gottheiten. Sie ist die Mutter einiger Kinder, die sie mit ihrem Bruder Erebos (Finsternis) gezeugt hat, wie beispielsweise Hemera (Göttin des Tages) aber auch Schauergestalten wie den Moiren, die unseren Lebensfaden spinnen und damit über das Ende bestimmen und einiger, die sie aus sich selbst - also ohne männlichen Partner - hervorgebracht hat. Zu diesen souverän geborenen Kindern gehören auch Hypnos (Schlaf) und Thanatos (Tod). Der Tod ist also im wörtlichen Sinn Schlafes Bruder…
Aber zurück zu Nyx: Sie ist rätselhaft. Niemand weiß mit Sicherheit, was sie eigentlich tagsüber macht, selbst Zeus fürchtet sie, schenkt ihr aber ein Gespann mit vier schwarzen Pferden, mit dem sie nachts über den Himmel braust - insgesamt also eine beeindruckende Frau.

Dennoch baut kaum jemand Tempel für sie oder erfindet Zeremonielle. Dabei gäbe es ohne sie weder den Tag noch den Tod, auch der Äther (Luft) stammt von ihr ab. Sie gehört also zum Ursprung der mythologischen Weltordnung. Ähnlich wie Maria Mutter Gottes - ebenfalls souveräne Gebährerin - das Fundament der christlichen Weltordnung maßgeblich mitgestaltet. Übernimmt Maria Mutter Gottes deswegen Nyx’ Attribute: Sternenumhang und Mondsichel?
Auch die biblische Weltordnung beginnt mit Chaos und Finsternis (so lesen wir in der Genesis). Etliche biblische Schlüsselmomente, Erscheinungen, spirituelle Ekstasen ereignen sich nachts.
Erst vor nachtschwarzer Kulisse entfaltet ein religiöses Ereignis wirkliche Strahlkraft

Caravaggio: Christus an der Säule

Auch dem Geiger und Komponisten Giuseppe Tartini soll der Teufel, der ihn zur Teufelstrillersonate inspiriert hat, nachts erschienen sein - und zwar treffender Weise im klösterlichen Exil.

Louis-Léopold Boilly: Der Teufel an Tartinis Bett

 

Genau: Im biblischen Ordnungsprinzip gibt es auch noch den Bösewicht, der dem Namen nach das Licht bringt: Luzifer (wörtl. Lichtbringer). Er ist ein gefallener Engel, gestürzt bei dem Versuch, sich über Gott zu erheben - ob ihm das nachts in den Sinn gekommen ist?

In einer Darstellung aus dem 6. Jahrhundert (in der Kirche San Vitale in Ravenna) begegnet er uns als waschechte Engelsfigur, als Teufel erkennbar an den drei Ziegen und der Farbe blau - damals noch Farbe der Nacht und des Bösen.

Auch Nyx trägt normalerweise eine Fackel mit sich herum (irgendetwas muss sie also mit dem Licht verbinden...), allerdings zu Boden zeigend. Erst im 19. Jahrhundert mit der Erfindung von Elektrizität richtet die Göttin im kapitalistischen Interesse die Fackel für Werbeplakate auf.

Die gute Nyx ist nicht nur der Mutter Gottes, sondern auch Mozarts Königin der Nacht zum Verwechseln ähnlich. Die Königin der Nacht ohne weiteren Namen ist eine furchteinflößende, irrationale Furie, die nur durch Weisheit, Licht und naja - einen Männerclub - besiegt werden kann. Sie singt wie eine durchgedrehte Rachegöttin, aber eben auch betörend schön. Nur ausgesuchte Stimmakrobatinnen sind in der Lage, ihre halsbrecherischen Melodien zu realisieren. Ihr Gesang erinnert an den der Sirenen, die auch die rauhesten und routiniertesten Seemänner vom Kurs abbringen und in den Tod reißen. Nur Odysseus entwickelt eine List, dem Zauberklang der Sirenen nicht zum Opfer zu fallen: Um sie zu passieren, lässt er seiner Mannschaft die Ohren mit Wachs verstopfen und fesselt sich selbst an einen Mast.

(Das ganze findet natürlich nachts statt...)
Während die Königin der Nacht, eine zutiefst unvernünftige, vernebelte und instinktgesteuerte Person in der Zeit der Aufklärung nur untergehen kann, kann Odysseus sich der Verlockung der Sirenen hingeben ohne sich oder die Versuchung in den Tod zu schicken. Er ist sich der Gefahr bewusst, findet aber einen Weg, Kontrolle und Ekstase zu vereinen.
Fun Fact: Beethoven nennt seine Schwägerin, gegen die er nach dem Tod seines Bruders einen erbitterten Rechtsstreit um die Vormundschaft für seinen Neffen führt, "Königin der Nacht".

War sie eine Dame, die sich nächtlichem Vergnügen hingab? War sie eine unehrenhafte Person? Hatte sie Liebhaber? War sie spielsüchtig?
Allerdings gehörte für eine Frau ihrer Zeit nicht viel dazu, in Verruf zu geraten, das dokumentiert nicht nur die tragische Geschichte der Kameliendame von Alexandre Dumas, die Verdi in seiner „Traviata“ vertont.

Eine wilde Mieze - um auf die Katzen zurückzukommen - die durch ihren kapriziösen Lebenswandel wohl kaum noch auf Streicheleinheiten hoffen kann, wird auch in diesem Lied besungen:

Dabei ist die Nacht ja eigentlich Zeit der Ruhe und Erholung.

Aber wer kennt sie nicht - die schlaflosen Stunden? Wer nachts anfängt, über seine Steuererklärung nachzudenken, meint spätestens ab 3 Uhr - der sogenannten Wolfsstunde - sich bald im Gefängnis oder zumindest im Visier der Steuerfahndung zu befinden. Nachts blähen sich winzige Probleme zu apokalyptischen Szenarien auf, harmlose Streitereien eskalieren bis zur Scheidung und vom nächtlichen SMS schreiben sollte man ohnehin gänzlich absehen. Gleichzeitig entstehen nachts ungeahnte, geniale Ideen, man führt tiefe Gespräche mit Leuten, die man kaum kennt und traut sich die kühnsten Taten zu.

Der Schlaf, der sich immer nur von selbst einstellt und nie erzwingen lässt, versetzt uns dann in einen einerseits seligen, andererseits vulnerablen Zustand. So ereilt Holofernes sein blutiges Schicksal im Schlaf, als er von Judith, die ihn zuvor mit ihrer Schönheit verzaubert und dann mit Wein betrunken gemacht hat, im Schlaf enthauptet wird.

(Siehe Minute 6:45)

Schlafen kann also gefährlich sein. Neben realen Gefahren wie Frauen, die Gerechtigkeit herstellen wollen, drohen uns auch Besuche von Hexen, Werwölfen, Geistern oder dem sagenumwobenen Nachtmahr. Er setzt sich des Nachts auf unsere Brust, sodass wir nicht mehr atmen können und von Alpträumen heimgesucht werden. Er verknotet uns die Haare, verwirrt die Sinne und ist nicht auszusperren, da er sogar durch Schlüssellöcher eindringen kann. Er reitet gerne und sieht wahrscheinlich wie ein kleiner Kobold aus. So ähnlich muss es sich jedenfalls Johann Heinrich Füssli gedacht haben.

Geister, übersinnliche Erfahrungen, Kontakt mit dem Jenseits haben im 19. Jahrhundert Konjunktur - nicht nur in der Schauerliteratur, sondern auch in der Musik. Hören wir ein eindrucksvolles Beispiel von Carl Tausig: Das Geisterschiff

Die Nacht ist den Romantikern aber vor allem Symbol für das Unbegreifliche, Transzendentale und nicht zuletzt die Todessehnsucht. In berückender Schönheit vertont: Eichendorffs Mondnacht von Robert Schumann

Die Nacht....

Ich versuche nicht, eine geeignete Definition zu finden, eine Abgrenzung, wissenschaftliche Darstellung...Sie ist vor allem das: vieldeutig, ambivalent, schwer zu fassen...Die Nacht ist schaurig und undurchsichtig, sie ist Zufluchtsort, Ort der Stille und Dunkelheit, Moment der Ruhe und Erholung, Ursprung von Fantasie und Traumwelten, Heimat von Geisterwesen und Spukgeschichten. Die Nacht ist zeitlose Zeit, wandloser Raum...

00:24 Uhr - Zeit zu schlafen...