Ein Italiener in Großbritannien
Francesco Geminiani wird als Sohn des Geigers Giuliano Geminiani in Lucca geboren. Nach einer Spielzeit am Teatro dei Fiorentini in Neapel (1706/1707) und einer zweijährigen Episode an der
Capella Palatina in Lucca in der Stellung seines Vaters, verlässt Francesco Geminiani seine Heimat 1714 für immer, um in Großbritannien Karriere zu machen.
Den Topos Ein Italiener in Großbritannien illustrieren im 18. Jahrhundert etliche Beispiele. Das florierende öffentliche Konzertleben und optimale Veröffentlichungsbedingungen lockten
italienische Musiker in Scharen in die Kulturmetropole London. Komplementär pflegte das englische Publikum einen regelrechten Kult um italienische Künstler - allen voran Arcangelo Corelli.
Geminiani trat als Corelli-Schüler dessen Erbe an und förderte gleichzeitig eine eigenständige Weiterentwicklung des Violinspiels und der durch italienische Tradition beeinflussten originär
englischen Konvention.
Spätestens ab den 1720er Jahren gehört Geminiani zu den renommiertesten Musikern Londons, unterhält einen regen Schülerkreis und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Kompositionen.
Auf diesem Porträt von Thomas Gainsborough lässt sich Joseph Gibbs, vermutlich einer von Geminianis zahlreichen Schülern, mit Kompositionsbänden von Corelli und Geminiani im Bildhintergrund
darstellen:
Die aufgeschlagene Sonate konnte Michael Festing, ebenfalls Geminiani-Schüler, zugeordnet werden. Das Porträt veranschaulicht die Vorbildfunktion der beiden Urväter Geminiani und Corelli sowie
die Verwobenheit von Lehrer-Schüler Verhältnissen und gegenseitiger Einflussnahme.
Geminiani nutzte nicht nur den in Großbritannien herrschenden Corelli-Kult und seine eigene privilegierte Position als italienischer Musiker geschickt zur Selbstvermarktung, sondern pflegte auch
enge Kontakte zu potenten Förderern, veröffentlichte mehrere Traktate und profilierte sich als Veranstalter und Gemäldehändler.
1752 beteiligte er sich an der Gründung der Freimaurergesellschaft Philo-Musicae et Architecturae Societas Apollini, deren Mitglieder die Liebe zur Musik verband.
Ende 1731 kuratierte er eine Abonnement-Konzertreihe im Hickford’s Room in London und in Dublin fungierte Geminiani’s Great Room gleichzeitig als Veranstaltungsort für
öffentliche Konzerte sowie als Abwicklungsstätte für Gemäldeverkäufe.
The Art of Playing on the Violin und die Vorrangstellung des musikalischen Ausdrucks
Mit seinem Traktat The Art of Playing on the Violin, den er 1751 auf eigene Kosten publizierte, leistete Geminiani Pionierarbeit noch kurz vor der Welle von Veröffentlichungen
insbesondere im deutschsprachigen Raum.
Eine ausgeprägte Liebhaberkultur bestimmte die große Nachfrage und erklärt die Fülle an Amateurschulen und rudimentären Musik-Kompendien in England im 17. und frühen 18. Jahrhundert, in deren
Tradition Geminiani sich einreihen konnte.
Geminianis Art of Playing on the Violin gehört jedoch zu den europaweit ersten Violinschulen mit professionellem Anspruch.
The Art of Playing on the Violin ist in Umfang und Konzeption nicht vergleichbar mit Traktaten des mittleren 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Der Textanteil ist
verhältnismäßig gering und strukturell skizzenhaft, in vielerlei Hinsicht jedoch technisch wie musikalisch präzise und inhaltlich entschieden. Der Text umfasst einige wesentliche Merkmale der
Aufführungspraxis des 18. Jahrhunderts. Im hell erleuchteten Fokus steht dabei der musikalische Ausdruck. Geminiani eröffnet seine Schule mit den poetischen und wegweisenden Worten:
„The Intention of Musick is not only to please the Ear, but to express Sentiments, strike the Imagination, affect the Mind and command the Passions“
1752, ein Jahr nach Erscheinen von The Art of Playing on the Violin veröffentlicht Charles Avison, Schüler und Bewunderer Geminianis, seinen Essay on Musical Expression und
markiert damit die in England aufkeimende musikästhetische Diskussion um Expression in Abgrenzung zu Imitation. Avison gibt dabei Expression klare Vorrangstellung. Auch
Geminiani distanziert sich bereits im ersten Abschnitt seiner Schule vom Violinspiel als bloßer Nachahmung oder Effekthascherei:
„But as the Imitating the Cock, Cuckoo, Owl and other Birds; or the Drum, French Horn, Tromba-Marina and the like (….) and all other Tricks rather belong to the Professors of Legerdemain and
Posture-masters than to the Art of Musick“
Geminiani verfolgt die im 18. Jahrhundert visionäre Vorstellung, musikalischen Ausdruck als primäre und eigenständige Qualität zu begreifen.
Die eigentliche Beschaffenheit von Musical Expression lässt sich in Worten kaum ausdrücken, Avison verweist auf den natürlichen Geschmack und auf das Lernen am Modell:
„After all that has been, or can be, said, the Energy and Grace of Musical Expression is too delicate a Nature to be fixed by Words: It is a Matter of Taste rather than of Reasoning, and is,
therefore, much better understood by Example than by Precept.“
Später im Text huldigt er seinem „greatest in instrumental music“ Vorbild Geminiani:
„There is such a Gentleness and Delicacy in the Turn of his musical Phrases, such a natural Connection in his expressive and sweet modulation throughout all his works, which are every where
supported with so perfect Harmony, that we can never too often hear, or too much admire them“
Die herausragende Bedeutung des Ausdrucks als höchstem Zweck von Musik schlägt sich auch in der durch Geminiani geprägten Begrifflichkeit Ornaments of Expression als Bezeichnung für
Verzierungen nieder. Geminiani listet bereits in seinem 1749 veröffentlichten Traktat Treatise of good taste in the Art of Musick, anhand dessen der Ausführende sich in der Kunst der
Verzierung und Variation üben soll, eine reichhaltige Auswahl an Ornamenten auf. Die Textpassage wird in The Art of Playing on the Violin wörtlich übernommen. Jedem Ornament ordnet er
dabei einen spezifischen Ausdrucksgehalt oder mehrere Ausdrucksvarianten sowie eine akribische Anweisung zur technischen Ausführung zu. Beispielsweise kann der Turned Shake in zwei
Schattierungen angewendet werden:
„The turn’d Shake being made quick and long is fit to express Gaiety; but if you make it short, and continue the Length of the Note plain and soft, it may then express some of the more tender
Passions“
Unter den Ornaments findet sich auch eine eingehende Beschreibung des Vibratos (Close Shake). Geminiani unterscheidet zwei Modi, die sich in Amplitude und Frequenz nach der musikalischen
Intention richten. Ein langsames, gleichmäßiges Schwingen eignet sich für einen majestätischen, würdevollen, ein engeres Beben für einen ängstlichen Affekt.
An siebter und achter Stelle der Ornamenten-Liste führt Geminiani das swelling and softening einer Note an. Er verwendet dafür ein eigenes Zeichen, das bereits in den 1712 in Paris
veröffentlichten 12 Sonaten für Violine und B.c. Op. 1 von Giovanni Antonio Piani auftaucht. Piani nutzt das Zeichen für drei unterschiedliche Klangmodulationen:
Pianis Sonaten folgen mit einem einführenden Vorwort einschließlich spieltechnischer Anweisungen augenscheinlich ebenfalls einem didaktischen Programm. Es ist denkbar, dass Geminiani während
seiner Pariser Jahre auf den Zyklus aufmerksam geworden ist und das Swelling-Zeichen übernommen hat.
Geminiani notiert das Swelling-Zeichen auch auf unbetonten Zählzeiten bzw. Auftakten, was dem heutigen Spieler zunächst ungewöhnlich anmutet. Bemerkenswerter Weise empfiehlt auch Johann
Joachim Quantz in seinem 1752 erschienenen Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen Violinspielern, Auftakte wenigstens in langsamen Sätzen mit "zunehmender Stärke des Tones“
auszuführen „um den Affekt der Traurigkeit auszudrücken“. Eine weitere vielleicht zufällige Parallele der beiden Autoren bildet eine eher undogmatische Auffassung von Strich-Regeln. Geminiani
lehnt die „wretched Rule“, jede erste Zähheit eines Taktes mit einem Abstrich zu erreichen, vehement ab. Quantz fordert von versierten Spielern zumindest die grundsätzliche Befähigung, den
Bogenstrich „egal und sich seiner im Hinaufstrich sowohl als Hinunterstrich gleich mächtig zu machen“. Er resümiert später:
„Denn, obwohl gewisse Noten notwendig im Hinunterstrich genommen werden müssen; so kann doch ein erfahrner Violinist, der den Bogen vollkommen in seiner Gewalt hat, dieselben ebenfalls im
Hinaufstriche gut ausdrücken“
Rules for Playing in a true taste, Treatise of good taste in the Art of Music und die Bedeutung von Scots Tunes im 18. Jahrhundert
Die 1746 und 1749 veröffentlichten Traktate Rules for Playing in a true Taste und Treatise of good taste in the Art of Musick umfassen neben einer kurzen Introduction
(Treatise of good Taste) Bearbeitungen und Variationen auf Basis bekannter Scots Tunes.
Die Mode, Volkslieder als Grundlage einer Komposition zu wählen, nutzten auch andere italienische Komponisten, um auf die Bedürfnisse und Vorlieben des Publikums und der Käuferschaft
Großbritanniens einzugehen. So verwendet Veracini in der Arie Oh inaspettata Sorte seiner Oper Rosalinda, die am 31. Januar 1744 im King’s Theatre aufgeführt wird, die Melodie
des schottischen Volksliedes The lass of Peaty’s mill - eine Ehrerbietung gegenüber der Londoner Gesellschaft und ihrer musikalischen Tradition.
Unter den unzähligen Collections of Scots Tunes, die in Großbritannien massenweise gekauft werden, gilt William Thomsons Orpheus Calaedonius im 18. Jahrhundert als populärste
Sammlung, die auch die von Geminiani verwendeten Lieder beinhaltet und als seine primäre Quelle anzunehmen ist. Robert Bremner, Schüler Geminianis und Musikalienhändler in Edinburgh führte diese
und viele weitere Sammlungen Schottischer Lieder in seinem Angebot. Möglicherweise wurde Geminiani durch ihn zur Vertonung von Scots Tunes inspiriert. Ebenso wahrscheinlich könnte er sich am
Beispiel Francesco Barsantis orientiert haben, der 1742 eine Collection of old Scots Tunes, with the Bass for the Violoncello or Harpsichord in Edinburgh und 1743 in London
veröffentlicht. Barsanti stammte wie Geminiani aus Lucca und übersiedelte ebenfalls 1714 nach London.
Geminiani lobpreist in seiner Introduction mehrere Vorbilder, mit besonderem Nachdruck Arcangelo Corelli:
„I do not pretend to be the Inventor of either (gemeint ist die Variation einer schlichten Melodie): other Composers of the highest class have been Adventurers in the same Voyage; and none with
more Success than the celebrated Corelli, as may be seen in his fifth Composition upon the Aria della Follia di Spagnia.
I have had the Pleasure of discoursing with him myself upon this Subject, and heard him acknowledge the Satisfaction he took in composing it, and the Value he left upon it“
Außerdem bekennt Geminiani sich als Bewunderer des Renaissance-Musikers David Rizzio und bekräftigt dessen Einfluss innerhalb schottischer Musikkultur:
„Two Composers have appeared in the World, who in their different Kinds of Melody, have raised my Admiration; namely David Rizzio and Gio. Battista Lulli (…) But when I consider, that Rizzio was
foremost in point of Time, that till then Melody was intirely rude and barbarous, and that he found Means at once to civilize and inspire it with all the native Gallantry of the SCOTISH Nation, I
am inclinable to give him the Preference.“
Rizzios Verdienst in der schottischen Musiktradition wird im 18. Jahrhundert nicht nur durch Geminiani quasi zum Mythos verklärt - vielen gilt er als Schöpfer der wunderbaren Scots Tunes.
Der Sänger kam im 16. Jahrhundert an den Hof der musikliebenden Maria Stuart und stieg bald zu ihrem Sekretär auf. Der Legende nach wurde er Opfer einer Intrige und vor den Augen der
hochschwangeren Maria Stuart mit über fünfzig Messerstichen ermordet.
John Opie, The murder of David Rizzio:
Geminiani fährt später in seiner Introduction fort:
„I lately have undertaken to improve the Melody of Rizzio into Harmony“
Diese Formulierung korreliert mit Charles Avisons Postulat, Harmony und Melody stellten die entscheidenden Werkzeuge und Voraussetzung für das Konzept Expression
dar.
„This be the natural Effect of Melody and Harmony on the Imagination, when simply considered; yet when to these is added the Force of Musical Expression the Effect is greatly increased; for then
they assume the Power of exciting all the most agreeable Passions of the Soul“
Geminianis Variationen verbinden in einzigartiger Weise italienische Variationskunst, entzündet am Vorbild Arcangelo Corellis, mit der schlichten Anmut schottischer Volkslieder und unter dem
Einfluss langjähriger Paris-Aufenthalte entwickelten Verzierungsmanieren.
Schlusswort
Geminianis zukunftsweisender Traktat The Art of Playing on the Violin wird noch im 19. Jahrhundert rezipiert, nachvollziehbar am Beispiel des Geminiani-Griffs für eine korrekte Haltung der linken Hand. Mozart bezieht den Griff ab der 3. Auflage seiner Gründlichen Violinschule ein, ebenso spätere Größen wie Pierre Baillot oder Ferdinand David.
Ausschnitt aus Pierre Baillots L'Art du Violon:
The Art of Playing on the Violin erscheint in den Jahren nach der englischen Erstveröffentlichung als französische und deutsche Ausgabe, sowie in verschiedenen Kurzfassungen und
Abwandlungen. Die vielschichtige Rezeption der Schule führte auch zu inhaltlichen Verwischungen, insbesondere in Bezug auf die Haltung der Violine. Obwohl der englische Originaltext die
Geigenhaltung unmissverständlich beschreibt:
„The Violin must be rested just below the Collarbone, turning the right-hand Side of the Violin a little downwards“
...hält sich bis ins 20. Jahrhundert die hartnäckige Angewohnheit, diese Passage umzudeuten. In der deutschen Ausgabe wird der Text an der entsprechenden Stelle einschneidend verändert und das
Titelbild der französischen Ausgabe schmückt die Darstellung eines Geigers, der das Instrument offenkundig oberhalb des Schlüsselbeins positioniert.
Obwohl zu Lebzeiten ebenbürtig mit Corelli oder Händel, gerät Geminiani im Laufe der Jahrhunderte vergleichsweise in Vergessenheit. Sicher trugen dazu vereinzelte negative Bemerkungen Charles
Burneys bei, die allerdings angesichts zahlloser zeitgenössischer Lobpreisungen und der erstrangigen Karriere des vielseitigen Künstlers Geminiani wohl kaum die Realität abbilden dürften.
Die Kompositionen innerhalb Geminianis Traktaten gehen weit über einen didaktischen Charakter hinaus. Sein kunstfertiger, eigenwilliger Umgang mit Harmonik, Rhythmik und Ornamentik erzählt von
einem erstklassig ausgebildeten, experimentierfreudigen und unkonventionellen Künstler zwischen verschiedenen Nationen und Kompositionsstilen. Aus italienischen Wurzeln, englischer Tradition und
französischen Einflüssen erschuf dieses Originalgenie seine eigene expressive Tonsprache.