ZEIT FÜR MUSIK

Es ist Zeit

Es ist an der Zeit

Es wird Zeit

Die Zeit ist gekommen

 

In meiner Vorstellung war „Zeit“ immer etwas übergeordnet  Unbegrenztes. Wenn ich mir aber diese Formulierungen auf der Zunge zergehen lasse, scheint Zeit eher etwas definiertes zu sein. Ein Moment, der kommen wird oder bereits gekommen ist. Ich möchte mich über diese Gedanken austauschen und frage Google, was er denkt. Google denkt, das hätte ich mir eigentlich denken können, an „Die Zeit“ - also an die Wochenzeitung. Das ist interessant: Die Zeit-ung - Auch das fällt mir jetzt zum ersten Mal auf - scheint die Wort-Werdung oder weitere Substantivierung der Zeit. New York Times. Zeitungen verhandeln aktuelle Themen. Das bekräftigt mich in der neu gewonnenen Annahme, dass Zeit eigentlich Gegenwart meint. Eine vergangene Zeit ist dann eben die vergangene Gegenwart. Zugespitzt spricht man dann von Zeitpunkt. Über die Existenz von Zeitpunkten muss ich informiert sein, wenn ich zum Beispiel pünktlich aufstehen möchte. Als im 18. Jahrhundert die ersten Wecker für den häuslichen Gebrauch erhältlich waren, faszinierte das auch viele Komponisten. François Couperins Vertonung klingt täuschend echt.

Zeit scheint also primär etwas punktuelles, ein gewisser Bereich zu sein. Gleichzeitig denke ich an den Freudschen Ausspruch: „Das Unbewusste kennt keine Zeit“ (Sigmund Freud). Die emotionale Welt und das daraus resultierende Erleben und Handeln korreliert tatsächlich nicht immer mit aktuellem Geschehen. Eigentlich fühlt sich Zeit weniger wie eine Aneinanderreihung von Momenten als vielmehr wie eine Kugel an, in der Momente aus allen Zeiten miteinander in Beziehung stehen. So ist die Gefühlswelt häufig bestimmt durch eine gewisse Gleichzeitigkeit. Allerdings ist das Zeitempfinden wieder eine eigene Kategorie. Der Begriff Zeit bleibt dabei einem mehr oder weniger langer Moment zugehörig.

Ich bin noch nicht zufrieden mit dieser Definition und recherchiere den etymologischen Ursprung des Wortes - das bringt mich oft weiter. Zeit stammt von althochdeutsch zit, auch altsächsisch Tijd - daher rührt wohl der Begriff Tide, also die Gezeiten Ebbe und Flut. Ebbe und Flut sind wiederkehrende, große Zeitspannen unterteilende Ereignisse. Ihr Anfang und Ende fließen ineinander über und doch sind zwei grundsätzlich verschiedene Phasen unverkennbar. Georg Philipp Telemann, ab 1721 Wahl-Hamburger, beschäftigt sich in seiner Orchester-Suite „Hamburger Ebb und Flut“ mit dem Phänomen.

Unser ganzes Leben ist bestimmt durch Wiederkehr, Enden und Anfänge. Man könnte sagen, es ist variantenreich durchrhythmisiert: Schlafenszeit, Essenszeit, Arbeitszeit, Freizeit, Ferienzeit, Orientierungszeit, Erholungszeit usw.

Wir verfügen über Zeit, haben Zeit, haben keine Zeit, teilen unsere Zeit ein, nehmen uns Zeit: das berühmte Zeitmanagement. 

„Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave“ (Friedrich Nietzsche)

Nietzsche stellt sehr treffend fest, dass der Begriff „Freizeit“ Unfreiheit zu allen anderen Zeiten impliziert. 

Auch die Formulierung „Ich habe keine Zeit“ hat mich schon immer irritiert - kann man Zeit denn haben? Eigentlich teilen wir uns die Zeit doch mit allen anderen, zumindest solange wir den grauen Herren aus Michael Endes „Momo“ keine Raum geben….Wie die Zeit letztlich ihren eigenen Gesetzen folgt, deren Logik wir nur dann und wann hören, inszeniert György Ligeti eindrucksvoll in einer Komposition für hundert Metronome. Der wenig mechanische Titel „Poème Symphonique“ formuliert meines Erachtens die Schönheit der Momente, in denen die vielen Metronome, die scheinbar alle durcheinander ticken, sich plötzlich treffen, wenn auch nur für einen einzigen Moment.

Nach diesen Überlegungen bin ich nun für mich zu einer Definition von „Zeit“ gelangt:

Zeit ist die Maßeinheit, die die Ewigkeit strukturiert.

Das klingt zunächst technokratisch, vielleicht auch trivial. Tatsächlich könnten wir das Leben ohne Zeitstruktur aber nicht ertragen. Denken wir nur an Sisyphos, der dazu verdammt ist, auf ewig einen Stein den Berg hinauf zu rollen, der, oben angekommen, wieder hinunter rollt. Ironischer Weise hatte Sisyphos zuvor einige Male Thanatos, den Tod, überlistet. Sisyphos war also so dreist, seine Lebenszeit zu manipulieren. Zur Strafe muss er spüren, wie abgründig Ewigkeit sein kann. Richard Wright, Keyboarder der Band Pink Floyd, schreibt 1969 eine Klang-Dichtung über die Sisyphos-Sage. Der Titel „Sisyphus“ eröffnet das Album „Ummagumma“, dessen Konzept darin bestand, dass jedem der vier Band-Mitglieder ein Viertel des Albums zur freien Verfügung stand. „Sisyphus“ ist seinerseits in vier Teile gegliedert. Die Band hatte offensichtlich Freude an klarer (zeiträumlicher) Ordnung.

Wir Menschen laufen keine Gefahr, eine Strafe auf ewig ausführen zu müssen. Unsere Leben sind endlich. Um in der griechischen Mythologie zu bleiben: Hier bestimmen die drei Moiren, die Schicksalsgöttinen, die Länge unseres Lebens. Sie spinnen für jeden Einzelnen den Lebensfaden - ein besonders fassliches Bild für eine Zeitspanne. In der nordischen Mythologie entsprechen den Moiren die Nornen, die auch in Wagners Ring des Nibelungen eine Rolle spielen und in der römischen Mythologie heißen sie die drei Parzen. 

Musik ist Kunst in der Zeit oder auch Architektur in Zeit - so sagt man landläufig. Ich frage mich: Müsste es nicht viel eher lauten: Musik ist Zeit? Diese Frage drängt sich besonders radikal in John Cages „4:33“ auf, einer Komposition der Stille in einem festgelegten Zeitraum von 4:33 Minuten. „Hören“ wir zuletzt dieses Werk. Oder interpretieren wir es? Schwer zu sagen, wer hier ausführend oder rezipierend ist. Es ist eben: Zeit.